Die plurale Perspektive ist durch ihre Offenheit für theoretische Komplementaritäten besser in der Lage der Komplexität sozioökonomischer Phänomene gerecht werden.
In der letzten Ausgabe dieses Newsletters habe ich argumentiert, dass die Multikausalität sozioökonomischer Phänomene – d. h. die Beobachtung, dass solche Phänomene typischerweise von mehreren verschiedenen Faktoren beeinflusst werden – eine zentrale Motivation für einen pluralistischen Ansatz in der Wirtschaftswissenschaft darstellt. Der Grundgedanke dabei ist, dass ein solcher pluralistischer Ansatz uns hilft, diese Vielzahl von Kausalpfaden zu erkennen und zu würdigen. Dies wiederum ermöglicht es uns, angemessenere und besser kontextualisierte Antworten auf theoretische wie auch auf angewandte Fragen zu geben.
Heterodox Economics Newsletter
Der Heterodox Economics Newsletter wird herausgegeben von Jakob Kapeller und erscheint im dreiwöchentlichen Rhythmus mit Neuigkeiten aus der wissenschaftlichen Community multiparadigmatischer ökonomischer Ansätze. Der Newsletter richtet sich an einen Kreis von mehr als 7.000 Empfänger*innen und zählt schon weit mehr als 250 Ausgaben.
Darüber hinaus kann uns eine solche pluralistische Denkweise aber auch dabei helfen, differenzierter zu beurteilen, ob verschiedene Argumentationslinien entweder als konkurrierend oder als komplementär zu betrachten sind. Am Beispiel der aktuellen Inflationsdebatten können wir feststellen, dass eine Vielzahl plausibler Gründe für den derzeitigen Inflationsschub angeführt wird – darunter die exogenen Schocks durch Corona und den russisch-ukrainischen Krieg, Kapazitätsengpässe in bestimmten Schlüsselsektoren (wie Chips oder Verkehr), Verschiebungen in der Verbrauchernachfrage sowie gewinnorientiertes Verhalten von Unternehmen, die in einem durch mangelnden Wettbewerb gekennzeichneten oligopolistischen Umfeld Möglichkeiten für Preiserhöhungen sehen*. Auch wenn einige dieser Argumente erst durch die Bemühungen einiger heterodoxer Autoren in die Debatte gelangt sind (vor allem durch Isabella Weber, z. B. hier oder hier, aber auch an anderer Stelle, z. B. hier oder hier), möchte ich hier vor allem darauf hinweisen, dass diese Vielzahl von Gründen zusammen eine überzeugendere und vollständigere Erklärung für den Preisanstieg liefern, als es eine Darstellung, die sich nur auf ein einziges Argument stützt, je könnte.** Der nächste Schritt wäre dann der Versuch, nicht nur die relative Bedeutung dieser Faktoren zu ermitteln, sondern auch zu erklären, inwieweit diese Faktoren tatsächlich miteinander zusammenhängen (siehe hier für einen potenziell nützlichen Rahmen für diese Aufgabe).
In diesem Zusammenhang fügte Marc Lavoie kürzlich einen interessanten Beitrag hinzu, in dem er zwei Mechanismen hervorhob, die in der gegenwärtigen Debatte wenig gewürdigt werden und daher auch in der oben wiedergegebenen Liste fehlen: Erstens besteht die Tendenz, dass die Gewinnquote in Zeiten des Aufschwungs steigt, da die Kapazitätsauslastung zunimmt und einige Kostenelemente fixiert werden (was sicherlich auf einige, aber angesichts der gegenwärtigen angebotsseitigen Beschränkungen wahrscheinlich nicht auf alle Sektoren zutrifft). Zweitens fügt er die Beobachtung hinzu, dass ein mechanischer Anstieg der Gewinnquote zu erwarten ist, wenn die Preise für Primär- und Vorleistungsgüter steigen, die Aufschläge in anderen Sektoren jedoch konstant bleiben. Und tatsächlich führen in einem einfachen Modellrahmen höhere Inputkosten zu höheren Gewinnen (da die Aufschläge auf Vollkostenbasis berechnet werden), während das Arbeitseinkommen unverändert bleibt.
Was genau ist nun von diesen Argumenten zu halten? Eine Möglichkeit ist, hier konkurrierende Erklärungen zu sehen, bei denen etwas mechanische Effekte den Argumenten für ein erfolgreiches Gewinnstreben der Unternehmen gegenübergestellt werden. Ich ziehe jedoch eine zweite Interpretation vor, nämlich diese Argumente als weitere Ergänzung der oben gesammelten Argumente zu sehen. Sie zeigen, wie steigende Inputpreise zu einem höheren Gewinnanteil führen, solange die Aufschläge konstant bleiben. Dies wirft jedoch wiederum die Frage auf, warum die Unternehmen in der Lage sind, Preiserhöhungen bei Vor- und Zwischenprodukten überhaupt weiterzugeben – mit anderen Worten: warum gibt es so wenig Wettbewerb? Während also die von Marc hervorgehobenen mechanischen Effekte sicherlich eine Rolle spielen, bleibt die Frage, warum die Unternehmen in Zeiten steigender Preise nicht gezwungen sind, ihre Gewinnspannen zu senken. Hier bieten Argumente zum Gewinnstreben und zur Marktmacht im Allgemeinen eine wichtige Ergänzung, die auch zu einer besseren Grundlage für Marcs eigene Geschichte führt.
Daher ist es meines Erachtens nach wie vor wichtig, den allgemeinen Mangel an Wettbewerbsdruck zu betonen, der das Preissetzungsverhalten der Unternehmen beeinflusst (wie Joan Robinson klassischerweise argumentiert hat). Darüber hinaus lässt sich an diesem Fall ein wesentlicher Vorteil eines pluralistischen Ansatzes verdeutlichen: Durch die Offenheit für theoretische Komplementaritäten sind wir in der Lage, bessere Erklärungen zu entwickeln, die der tatsächlichen Komplexität sozioökonomischer Phänomene besser gerecht werden.
Ich wünsche Ihnen alles Gute,
* In einigen Ländern wie den USA dürfte auch die Finanzpolitik eine gewisse Rolle gespielt haben. Die COVID-Konjunktur soll in den USA 15 % des BIP erreicht haben.
** Der Unternehmenssektor selbst birgt eine große Heterogenität: Die Gewinnspannen haben sich nicht homogen zwischen den Unternehmen entwickelt, sondern variieren zwischen den Sektoren und je nach Unternehmensgröße/Marktmacht.