Von Krisen, Gewalt und Pfadabhängigkeiten: Kann oder muss die heterodoxe Wissenschaft nach der Entstehung von Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit fragen?
Es ist nun fast zwei Monate her, dass sich ein weiteres moralisches Rätsel, das sich aus pfadabhängigen, historischen Konfliktlinien ergibt, zu einer Eskalationsspirale der Gewalt entwickelt hat. Solche Verstrickungen in eine gewaltsame Eskalation, auch wenn sie nur vorübergehend sein sollten, sind immer mit einem unglaublichen menschlichen Preis verbunden und machen mich weitgehend sprachlos. Nichtsdestotrotz lässt sich die zugrundeliegende Dynamik solcher Konflikte – sowohl im Hinblick auf tatsächliche bewaffnete Auseinandersetzungen als auch im Hinblick auf die kontinuierliche Verstärkung latenter Konflikte durch ausgrenzende Politik – zumindest mit einem Eckpfeiler der heterodoxen politischen Ökonomie, nämlich der Idee der selbstverstärkenden Effekte, rationalisieren.
Heterodox Economics Newsletter
Der Heterodox Economics Newsletter wird herausgegeben von Jakob Kapeller und erscheint im dreiwöchentlichen Rhythmus mit Neuigkeiten aus der wissenschaftlichen Community multiparadigmatischer ökonomischer Ansätze. Der Newsletter richtet sich an einen Kreis von mehr als 7.000 Empfänger*innen und zählt schon weit mehr als 250 Ausgaben.
Während solche selbstverstärkenden Effekte typischerweise im Kontext von Pfadabhängigkeit, Verteilungsanalysen (z.B. der Begriff des kumulativen Vorteils) oder Analysen im Zusammenhang mit Machtasymmetrien (z.B. der Begriff der bevorzugten Bindung) hervorgehoben werden, sind sie auch in gewisser Weise hilfreich, um eskalierende, gewaltsame Entwicklungen besser zu verstehen, die das Potenzial haben, zu langfristigen Blockaden von Konflikten und Hass zu führen. Solche Blockaden lassen den Beteiligten nur sehr wenige (oder sogar leere) moralisch legitime Optionen, was oft zur Verlängerung und Verschärfung der jeweiligen Konflikte beiträgt. In ähnlicher Weise können selbstverstärkende Effekte als mögliche Erklärung für die empirische Beobachtung herangezogen werden, dass die „Intensität bewaffneter Konflikte“ scheinbar einem Potenzgesetz folgt (siehe z. B. hier).
Diese Perspektive könnte vielleicht eine neue Sichtweise auf die Definition der heterdoxen Ökonomie als die „wahre düstere Wissenschaft“ inspirieren. In diesem Sinne besteht die Aufgabe der heterodoxen Ökonomie darin, zu erklären, warum so viele Dinge, die unsere Smith’schen Leidenschaften für Mitgefühl und Gerechtigkeit irritieren, in dieser Welt entstehen (ohne anzunehmen, dass die Menschen von Anfang an böse sind). Das mag zunächst allzu defätistisch klingen, doch sollte man bedenken, dass eine angewandte Version einer so definierten Wissenschaft tatsächlich zu mehr Frieden unter den Menschen beitragen könnte, da ihre Kernfrage nach dem Entstehen von Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit überhaupt erst fragt.
In einer eher technischen Angelegenheit könnten uns solche Überlegungen auch dazu motivieren, tiefer darüber nachzudenken, wie genau ein allgemeiner Begriff von sich selbst verstärkenden Effekten einen Großteil der heterodoxen Wirtschaftswissenschaften durchdringt und ob und inwieweit es sinnvoll ist, verschiedene Varianten und Anwendungen zu synthetisieren, um dieses (vermeintlich) allgemeine Prinzip expliziter und zugänglicher zu machen.
Mit freundlichen Grüßen,
PS: Eine vielleicht etwas optimistischere Nachricht in dieser Ausgabe betrifft die Tatsache, dass eines der Häuser des Heterodox Economics Newsletter – das Institut für Umfassende Wirtschaftsanalyse an der Johannes Kepler Universität Linz – im kommenden Jahr sein Personal und seine Aktivitäten ausbauen wird. Wenn Sie daran interessiert sind, sich an dieser Erweiterung zu beteiligen, lesen Sie den entsprechenden Beitrag unten!