Die globale Armut ist seit der Jahrtausendwende stark zurückgegangen – was aber hohe Wachstumsraten erforderte und großen Umweltbelastungen mit sich brachte. Und nur ein minimaler Anteil der neugenerierten Wirtschaftsleistung kam tatsächlich den Armen zugute, während vor allem die reichen Einkommensgruppen profitierten.
aut der Weltbank war die Bekämpfung der globalen Armut in den letzten Jahrzehnten sehr erfolgreich. Der Bericht Poverty and Shared Prosperity Report 2022 mit dem Titel „Correcting Course“ verbreitet ein Narrativ, das immer häufiger vertreten wird. Demzufolge wurde der erfreuliche Trend von sinkender Armut, der noch bis 2019 zu beobachten war, durch die Covid-19-Pandemie sowie durch die russische Invasion in der Ukraine umgekehrt. Jedoch sei die globale Armutsbekämpfung zwischen 2000 und 2019 vorbildlich verlaufen, und in Abwesenheit dieser externen Schocks wären wir einer Welt ohne Armut heute noch näher. Dieser Fortschritt sei dem schnellen Wirtschaftswachstum zu verdanken.
Aber in Anbetracht der Umweltkrise, die die Grundlagen der menschlichen Existenz auf diesem Planeten gefährdet, muss man erkennen, dass das Wachstum zusätzliche Umweltkosten mit sich bringt, die wir vielleicht nicht tragen können (zumindest nicht mit den heute zur Verfügung stehenden Technologien). Deswegen sollen wir uns fragen, wie viel von dieser neugenerierten Wirtschaftsleistung tatsächlich der Armutsbekämpfung dient, und wie viel von der damit verbunden zusätzlichen Umweltbelastung vermeidbar ist, weil sie nur dem (überflüssigen) Luxus dient.
Der Autor
Arthur Zito Guerriero ist Doktorand im Promotionskolleg „Politische Ökonomie der Ungleichheit“ und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Unternehmensbesteuerung der Universität Duisburg-Essen. Seine Schwerpunkte: Die normativen Grundlagen der Messung von ökonomischer Ungleichheit.
Die Daten der World Income Inequality Database (WIID) zeigen tatsächlich eine schnelle Reduktion der globalen Armut zwischen 2000 und 2019. Die Anzahl der Menschen, die unter der extremen Armutsgrenze von 2,15 US-Dollar (2017 PPP) pro Tag leben, ist von 680 Millionen auf 404 Millionen (bzw. von 11 auf 5% der Weltbevölkerung) geschrumpft. Und selbst wenn man höhere Armutsgrenzen verwendet, wie etwa von 3,65 US-Dollar oder 6,85 US-Dollar pro Tag, ist ein ähnlicher Trend zu beobachten: 1,37 Milliarden Menschen (22% der Weltbevölkerung) haben im Jahr 2000 von weniger als 3,65 US-Dollar am Tag gelebt, während es 2019 nur noch 700 Millionen (9% der Weltbevölkerung) waren. Gemessen an der 6,85 US-Dollar-Grenze ist die Zahl der von Armut betroffenen Menschen von 2,47 Milliarden (40%) auf 1,46 Milliarden (19%) gesunken.
Unter vielen Ökonom:innen herrscht die Auffassung, dass Wirtschaftswachstum das beste Mittel gegen Armut sei. Ein bekannter Aufsatz von Dollar und Kraay (2016) behauptet beispielweise, dass die Erhöhung der Gesamtproduktion auch die Ärmsten begünstigt, da die Einkommen der Armen mit ähnlichen Wachstumsraten wie die anderen Einkommensgruppen wachsen würden. Somit sei es sinnvoll, Maßnahmen zur Steigerung des Wirtschaftswachstums (und somit der Gesamteinkommen) zu ergreifen, da die Verringerung der Armut eine fast automatische Folge wäre. Die Daten zur globalen Einkommensverteilung scheinen diese Auffassung zu bestätigen: Das globale Durchschnittseinkommen ist zwischen 2000 und 2019 real um 52% gestiegen, von 11.071 auf 16.853 US-Dollar pro Jahr. Zusammen mit dem Wachstum der Gesamtwirtschaft (i.e. des Gesamteinkommens bzw. der Gesamtproduktion) stiegen auch die Einkommen der ärmsten Bevölkerungsgruppen der Welt.
Serie Ungleichheit und Macht
Die wachsende gesellschaftliche Ungleichheit ist eines der bedeutendsten Probleme unserer Zeit. Zugleich steigt das wissenschaftliche Interesse und liefert neue Erkenntnisse mit Blick auf die drängendsten Fragen und Antworten zu verschiedenen Dimensionen der Ungleichheit und ihren zugrundeliegenden Machstrukturen.
Für die Debattenreihe „Ungleichheit und Macht“ haben Doktorand:innen aus dem Promotionskolleg „Politische Ökonomie der Ungleichheit“ am Institut für Sozioökonomie der Universität Duisburg-Essen diese neuen Erkenntnisse aufgeschrieben. In den Beiträgen stellen die Promovierenden, die von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert werden, Teilergebnisse ihrer Forschung vor und diskutieren verbundene gesellschaftliche Herausforderungen sowie politische Handlungsoptionen. Mit dem Fokus auf Ungleichheitsdimensionen und zugrunde liegenden Machtverhältnissen reicht der thematische Bogen von Armut und Besteuerung bis zu Arbeitsmarkt‑, Gleichstellungs- oder Klimapolitik. Durch die thematischen Breite und Vielfalt der eingesetzten Methoden stoßen die Autor:innen eine weiterführende gesellschaftliche Debatte darüber an, wie der steigenden Ungleichheit begegnet werden kann.
Die Reihe erscheint in regelmäßigen Abständen zwischen April und Juni 2023 im Makronom. Hier im ifsoblog dokumentieren wir die Serie anschließend ebenfalls.
Wenn die Auffassung stimmt, dass das Einkommen der Ärmsten in der Regel mit ähnlichen Raten wächst wie die anderen Einkommensgruppen (und somit auch mit ähnlichen Raten wie das Gesamteinkommen), dann kann man die globale Armut beseitigen, wenn man nur genug Wachstum hat. Aber wie viel Wachstum wäre dafür nötig? Die ärmsten 5% der Weltbevölkerung hatten 2019 ein durchschnittliches Einkommen von 1,02 US-Dollar pro Tag. Das bedeutet, dass sich die Einkommen dieser Gruppe mehr als verdoppeln müssten, um die extreme Armutsgrenze von 2,15 US-Dollar zu erreichen. Geht man von einem Wirtschaftswachstum ohne Veränderung der relativen Einkommensverteilung aus, bedeutet dies, dass sich die Kapazität der gesamten Weltwirtschaft verdoppeln müsste, damit wir in einer Welt ohne extreme Armut leben könnten. In Anbetracht der Umweltkrise ist es nicht realistischerweise zu erwarten, dass ein Wachstum dieses Ausmaßes möglich ist, ohne die planetaren Grenzen zu überschreiten – selbst wenn diese Mehrproduktion mit ökologischen Technologien generiert wird.
Wachstum als Mittel zum Zweck
Da es nicht möglich ist, unendlich weiter zu wachsen, sollen wir uns nicht nur fragen, ob das Wachstum zur Armutsbekämpfung beigetragen hat, sondern auch, wie effizient es dies tut. Hier ist es sinnvoll, einen neuen Begriff zu definieren: die Effizienz von Wachstum bei der Armutsbekämpfung. Dies setzt voraus, dass wir die Armutsbekämpfung als Ziel verstehen, und das Wachstum lediglich als Mittel.
Man verwendet üblicherweise das Wort „Effizienz“ in Fällen, in denen ein bestimmtes Ziel durch möglichst geringe Mittel erreicht werden soll. Effizient ist zum Beispiel ein Auto, das wenig Benzin (Mittel) verbraucht, um einen Kilometer zu fahren (Ziel). In diesem Fall berechnen wir, wie viel Einkommenserhöhung bei den Armen (Ziel) mit gegebener Erhöhung des Gesamteinkommens (Mittel) erreicht wurde. Dafür betrachten wir die Ratio zwischen zwei Größen: die Steigerung der Einkommen von Menschen, die in Armut leben, und die Steigerung des Gesamteinkommens. Beide Beträge beziehen sich auf absolute Werte. Die gemessene Effizienz vom Wachstum ist also eine Zahl zwischen 0 (wenn die Einkommen der Armen gar nicht gestiegen sind) und 1 (wenn nur die Einkommen unter der Armutsgrenze gestiegen sind und alle anderen Einkommen konstant bleiben).
Wenn man diesen Begriff verwendet, um die Daten zur globalen Armut zu analysieren, kommt man zu erstaunlichen Ergebnissen. Abbildung 1 zeigt, dass zwischen 2000 und 2019 nur 0,5% des globalen Wachstums dazu beigetragen haben, die Einkommen derjenigen zu erhöhen, die mit weniger als 2,15 US-Dollar pro Tag auskommen mussten, obwohl diese Gruppe im Jahr 2000 11% der Weltbevölkerung ausmachte. 22% (bzw. 40%) der Weltbevölkerung lebten im Jahr 2000 unter der Armutsgrenze von 3,65 US-Dollar (bzw. 6,85 US-Dollar), aber nur 1,6% (bzw. 5,4%) der Steigerung des Gesamteinkommens ging an sie. Gleichzeitig dienten 29,9% des gesamtwirtschaftlichen Wachstums dazu, die Einkommen über 5.000 US-Dollar pro Monat (entspricht etwa 165 US-Dollar pro Tag) zu erhöhen, während nur 3% der Weltbevölkerung in dieser Einkommensgruppe waren.
Das heißt: Es waren 200 US-Dollar Gesamtwachstum erforderlich, um einen Dollar zur Verringerung der extremen Armut beizutragen – während davon 59,80 US-Dollar (mit allen damit verbundenen Umweltbelastungen) an Gruppen gingen, die bereits über hohe Einkommen verfügten (mehr als 5.000 US-Dollar im Monat). Diese Zahlen deuten darauf hin, dass das Wachstum der Weltwirtschaft unter dem aktuellen Wirtschaftssystem ein äußerst ineffizienter Weg ist, um die Armut zu bekämpfen.
Im extremen Fall, in dem die Effizienz des Wachstums gleich 1 wäre – das heißt, wenn sich nur das Einkommen der in Armut lebenden Menschen erhöhen würde, während das Einkommen aller anderer konstant bliebe – wäre es möglich, die Armut mit einer minimalen Wachstumsrate zu beseitigen. Um das Einkommen aller in extremer Armut lebenden Menschen im Jahr 2019 auf die Grenze von 2,15 US-Dollar pro Tag anzuheben, waren insgesamt 135 Milliarden US-Dollar erforderlich. Dies entsprach 0,11% des globalen Gesamteinkommens (123 Billionen US-Dollar). Mit anderen Worten: Ein Wachstum von 0,11% würde ausreichen, um die Armut zu beenden, ohne dass das Einkommen irgendeiner Gruppe sinken würde. Um die Armut zu beseitigen, die durch die Grenze von 6,85 US-Dollar pro Tag definiert ist, wäre ein Wachstum von 1,3% ausreichend.
In dieser Darstellung zeigt sich, dass die Wachstumsgewinne der letzten Jahrzehnte trotz des Rückgangs von Armut vornehmlich den Reichsten zugutekamen. Zugleich werden die ökologischen Kosten, die durch Wirtschaftswachstum verursacht werden, von allen getragen. Einen unverhältnismäßig hohen Preis zahlen sogar diejenigen, die über die geringsten wirtschaftlichen Ressourcen verfügen, um sich vor dem Klimawandel zu schützen, oder die in den vom Klimawandel am stärksten betroffenen Ländern leben – also die Ärmsten.
Sollte die Armutsbekämpfung vom Wirtschaftswachstum abgekoppelt werden?
Der Versuch, die Umweltbelastung vom Wirtschaftswachstum abzukoppeln, ist möglicherweise ein zu langsamer Ansatz, der in der verbleibenden kurzen Zeit nicht die notwendige Transformation herbeiführen wird. Wäre es nicht sinnvoller, stattdessen zu versuchen, die Armutsbekämpfung vom Wirtschaftswachstum abzukoppeln?
Unter diesem Gesichtspunkt sollte man aufhören, sich eine Wirtschaftspolitik vorzustellen, die das Gesamteinkommen maximiert und von der wir erwarten, dass sich die Armut „automatisch“ verringert. Es wäre sinnvoller, Maßnahmen zu verfolgen, die direkt darauf abzielen, das Einkommen derjenigen zu erhöhen, die es am meisten brauchen, und Wachstum (oder sogar Wachstumsrückgang) als Nebenprodukt zu betrachten. Wenn das Einkommen der Armen steigt, ist es nicht problematisch, dass die Wirtschaft (also, das Durchschnittseinkommen) schrumpft. Angesicht der Umweltkrise sollte genau dies das Ziel sein: die wichtigsten menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, ohne mehr zu produzieren.
Besonders wichtig ist zu sehen, dass das Wachstum nur effizient gegen Armut ist, wenn es in den ärmsten Ländern und vor allem in den ärmsten Einkommensgruppen dieser Länder stattfindet. In Sub-Sahara Afrika (der ärmsten Region der Welt) haben 6% des Wachstums zwischen 2000 und 2019 zur Bekämpfung von extremer Armut beigetragen, während in reichen Regionen (wie Europa oder Nordamerika) die Effizienz des Wachstums bei 0% lag. Auf ähnliche Art und Weise hat das Wachstum in Deutschland (wo 0% der Bevölkerung in extremer Armut leben) keinen Einfluss auf die globale Armut gehabt, während 37% des Wachstums in Somalia (wo 85% Prozent der Bevölkerung mit unter 2,15 US-Dollar am Tag leben) zur Armutsreduktion beitrug.
Die Bekämpfung der Armut ist ein moralisches Gebot, und die Lösung der Umweltkrise ist eine praktische Notwendigkeit, um die Lebensbedingungen der Menschheit zu erhalten. Um diese Ziele zu erreichen, sind sicherlich eine Vielzahl politischer und wirtschaftlicher Herausforderungen zu bewältigen. Der vorliegende Text beansprucht nicht, konkrete Lösungsansätze vorzuschlagen. Es ist jedoch ein notwendiger Schritt, die Art und Weise zu ändern, wie wir Daten betrachten und unsere Ziele neu definieren. Wenn wir nicht wissen, wie wir den Fortschritt messen können und wo wir hinmüssen, werden wir nie wissen, welche Politik wir verfolgen sollen. Dabei ist es wichtig zu betrachten, wie viel von den neuproduzierten Gütern tatsächlich zur Armutsreduktion benutzt wird, sodass die Berechnung der Effizienz von Wachstum (wie es hier definiert wurde) eine wichtige Bedeutung gewinnt.
Wir müssen die Effizient vom Wachstum bei der Armutsbekämpfung erhöhen
Ist es wirklich notwendig, die Gesamtproduktion der globalen Wirtschaft zu verdoppeln, um extreme Armut zu beenden – oder reichen 0,11% Wachstum aus? Da es höchst unwahrscheinlich ist, dass nur das Einkommen der Ärmsten steigt, ist die Beendigung der extremen Armut mit nur 0,11% Wachstum utopisch. Jedoch würde die Strategie von Wachstum ohne Umverteilung ein 100%iges Wachstum erfordern, was mit den planetaren Grenzen, auf die wir beschränkt sind, kaum vereinbar ist.
Eine praktikable Entwicklungsstrategie liegt wahrscheinlich dazwischen. Was nicht plausibel erscheint, ist die Behauptung, dass wir das ineffiziente Wachstumsmodell von 2000 bis 2019 als Vorbild nehmen sollten, wo die Einkommen der Reichsten um 59,80 US-Dollar erhöht werden müssten, um allein einen Dollar an extremer Armut zu reduzieren. Es ist höchste Zeit, Maßnahmen zur Erhöhung der Effizienz von Wachstum bei der Armutsbekämpfung zu ergreifen.
Die Politische Ökonomie der Ungleichheit
Das Promotionskolleg „Die Politische Ökonomie der Ungleichheit“ untersucht Ausmaß, Ursachen und Folgen steigender sozioökonomischer Ungleichheit. Materielle Unterschiede stehen dabei im Mittelpunkt, werden aber stets in Zusammenhang zu politischen, sozialen und ökologischen Aspekten gesetzt. Die Forschungspraxis ist von einem interdisziplinären und anwendungsorientierten sozioökonomischen Ansatz geprägt. Zur Übersicht aller Blogbeiträge der Mitglieder aus dem Promotionskolleg
Dieser Beitrag wurde zunächst auf makronom.de veröffentlicht.
Kurz zusammengefasst
Die globale Armut ist seit der Jahrtausendwende stark zurückgegangen. Dieser Erfolg wird allgemein dem Wirtschaftswachstum zugeschrieben. Die Umweltkriese stellt die Unschuld dieser Theorie infrage. Wie viel von dieser neugenerierten Wirtschaftsleistung dient tatsächlich der Armutsbekämpfung, und wie viel der damit verbunden zusätzlichen Umweltbelastung ist vermeidbar, weil sie nur dem (überflüssigen) Luxus dient?Der Artikel behandelt das komplexe Verhältnis zwischen Wirtschaftswachstum, Armutsbekämpfung und Umweltauswirkungen. Der Text argumentiert: Die viel wichtigere Frage ist nicht, ob Wachstum die Armut verringert, sondern wie effizient sie dies tut. Es kann gezeigt werden, dass nicht vornehmlich niedrige Einkommensschichten von wirtschaftlichem Wachstum profitieren sondern besonders reicheren das Wachstum zugutekommt. Der Autor argumentiert, es sei notwendig, die Armutsbekämpfung von dem Wirtschaftswachstum zu entkoppeln und stattdessen Maßnahmen zu ergreifen, die direkt darauf abzielen, das Einkommen der Bedürftigsten zu steigern. Der Artikel schließt mit dem Appell, die Effizienz des Wachstums bezüglich der Armutsbekämpfung zu erhöhen und neue Ansätze zu verfolgen, um die drängenden Herausforderungen der Ungleichheit und Umweltzerstörung anzugehen.