Wie man eine plu­rale Per­spek­tive „ver­kauft“.

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Von Zeit zu Zeit werde ich ein­ge­la­den, einen öffent­li­chen Vor­trag zu hal­ten, um zu erklä­ren, worum es in der Öko­no­mie eigent­lich geht. Das ist eine inter­es­sante Her­aus­for­de­rung: In der Regel hat man etwa 45 Minu­ten Zeit, um ein zufäl­lig aus­ge­wähl­tes Publi­kum von 30 bis 100 Per­so­nen davon zu über­zeu­gen, dass es inter­es­sant sein kann, über wirt­schaft­li­che The­men nach­zu­den­ken – wenn man es rich­tig macht. Im Durch­schnitt hat ein sol­ches Publi­kum hohe Erwar­tun­gen, da die Teil­neh­mer nicht nur ein gewis­ses Grund­ver­ständ­nis des Fachs erlan­gen wol­len, son­dern auch (ähn­lich wie Jour­na­lis­ten) Ant­wor­ten auf aktu­ell drän­gende Fra­gen wie Kli­ma­er­wär­mung, Infla­tion, zuneh­mende Ungleich­heit, die wirt­schaft­li­chen Aus­wir­kun­gen von Krieg und Frie­den usw. suchen. Außer­dem wol­len sie nicht über­for­dert wer­den: Man muss ganz klar argu­men­tie­ren, Jar­gon und Fach­be­griffe ver­mei­den und – als gele­gent­li­ches Plus oben­drauf – den einen oder ande­ren Witz in petto haben.

Hete­ro­dox Eco­no­mics Newsletter

Der Hete­ro­dox Eco­no­mics News­let­ter wird her­aus­ge­ge­ben von Jakob Kapel­ler und erscheint im drei­wö­chent­li­chen Rhyth­mus mit Neu­ig­kei­ten aus der wis­sen­schaft­li­chen Com­mu­nity mul­ti­pa­ra­dig­ma­ti­scher öko­no­mi­scher Ansätze. Der News­let­ter rich­tet sich an einen Kreis von mehr als 7.000 Empfänger*innen und zählt schon weit mehr als 250 Ausgaben.

Ich gebe zu, ich habe ein Stan­dardskript, wie ich einen sol­chen Vor­trag angehe, das wie folgt abläuft:

Schritt 1: Ich werde in der Regel einige Beob­ach­tun­gen zur Wis­sen­schafts­phi­lo­so­phie und zur Wirt­schafts­so­zio­lo­gie aus­füh­ren, um zu argu­men­tie­ren, dass eine Plu­ra­li­tät der Per­spek­ti­ven (a) in der Wis­sen­schaft aus ver­schie­de­nen Grün­den* oft hilf­reich sein kann und (b) in der gegen­wär­ti­gen Wirt­schafts­wis­sen­schaft, die von einem Main­stream-Zweig domi­niert wird, nicht vor­han­den ist.

Schritt 2: Im Gegen­zug werde ich einige Schlüs­sel­be­griffe die­ses Main­stream-Zweigs kurz erläu­tern, was recht ein­fach ist, da die zugrun­de­lie­gen­den Argu­mente weit ver­brei­tet und kul­tu­rell gut ver­an­kert sind, so dass das Publi­kum die grund­le­gen­den Intui­tio­nen, die den Stan­dard-Lehr­buch­mo­del­len zugrunde lie­gen, schnell ver­ste­hen wird. Auch der Hin­weis dar­auf, dass diese Modelle und Intui­tio­nen in der Tat einer genaue­ren Prü­fung und Kri­tik unter­zo­gen wer­den kön­nen (und soll­ten), wird für einen gro­ßen Teil Ihres Publi­kums eine Erleich­te­rung sein, da viele bereits den Ver­dacht hegen wer­den, dass an die­sen Vor­stel­lun­gen etwas faul ist – vor allem, aber nicht nur, weil sie so schwer mit den oben genann­ten „drin­gen­den Pro­ble­men“ in Ein­klang zu brin­gen sind. Bob Mar­ley hat ein­mal gesagt: „You can fool some peo­ple some­ti­mes but you can’t fool all the peo­ple all the time“, und bei sol­chen Vor­trä­gen habe ich immer wie­der den Ein­druck, dass er damit rich­tig lag.

Schritt 3: Ich wende mich eini­gen Bei­spie­len zu, die sich auf die „drän­gen­den Fra­gen“ unse­rer Zeit bezie­hen, und ver­su­chen zu zei­gen, wie (und warum) Main­stream-Erklä­run­gen hier zu kurz grei­fen und warum ein plu­ra­lis­ti­scher Ansatz vor­zu­zie­hen sein könnte. Die­ser Schritt ist wie­derum oft recht ein­fach zu kon­zep­tua­li­sie­ren: Die Main­stream-Öko­no­mie-Posi­tion zur Kli­ma­er­wär­mung zum Bei­spiel scheint den meis­ten Besu­chern ver­blüf­fend und bedarf kei­nes gro­ßen Kom­men­tars. Im Gegen­satz dazu ist die Fest­stel­lung, dass die Ent­kopp­lung nicht (in aus­rei­chen­dem Maße) statt­fin­det, nicht allzu kom­plex zu ver­mit­teln. Ähn­lich ver­hält es sich mit der Infla­tion, wo hete­ro­doxe Tra­di­tio­nen in der Regel ein brei­te­res Spek­trum mög­li­cher Infla­ti­ons­ur­sa­chen abde­cken, was wie­derum hilf­reich ist, wenn – wie gerade jetzt – die für die Infla­ti­ons­bil­dung rele­van­ten his­to­ri­schen Rah­men­be­din­gun­gen eine plötz­li­che und uner­war­tete Ver­än­de­rung erfah­ren. Die Dinge kön­nen natür­lich noch kom­pli­zier­ter wer­den, aber um einige Grund­la­gen zu die­sen The­men zu schaf­fen, braucht man keine Rake­ten­wis­sen­schaft – im Gegen­teil, sie kann (und sollte wahr­schein­lich) eine grö­ßere Rolle in unse­ren öffent­li­chen Debat­ten spielen.

Nun, hier ist meine wich­tigste Erkennt­nis, die ich aus den mehr als zehn Jah­ren, in denen ich sol­che Vor­träge halte, gewon­nen habe: Mit der Zeit ist es viel, viel ein­fa­cher gewor­den, einen sol­chen Vor­trag zu halten ;-)

Als ich damit anfing, bezog ich mich in der Regel auf das Feh­len von nach­hal­ti­gem und inklu­si­vem  Wachs­tum nach der neo­li­be­ra­len Wende oder der Finanz­krise, um die Ein­sei­tig­keit der aka­de­mi­schen Öko­no­mie zu ver­deut­li­chen. Heute erschei­nen diese Fälle, obwohl sie immer noch inter­es­sant und rele­vant sind, wie ver­staub­tes Mate­rial für His­to­ri­ker, da die Zahl und Schwere der sozio­öko­no­mi­schen Kri­sen in den letz­ten Jah­ren zuge­nom­men hat. Und ich denke, dass diese stän­di­gen Kri­sen dazu geführt haben, dass immer mehr Men­schen ver­mu­ten, dass inner­halb der Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten eine Art (schäd­li­ches) Grup­pen­den­ken herrscht. Die­ses Grup­pen­den­ken wird übri­gens sehr schön in einer kürz­lich erschie­ne­nen Arbeit von Jav­dani & Chang beschrie­ben, die zei­gen, dass die Zustim­mung von Wirt­schafts­wis­sen­schaft­lern zu bestimm­ten Aus­sa­gen über Wirt­schafts­po­li­tik und ‑theo­rie nicht nur vom Inhalt der Aus­sage abhängt, son­dern auch davon, wem die Aus­sage zuge­schrie­ben wird. Es über­rascht nicht, dass Main­stream-Quel­len die höchste Zustim­mung her­vor­ru­fen…, was den Ingroup-Effekt sicht­bar und nach­voll­zieh­bar macht.

Alles Gute und herz­li­che Grüße,

Jakob
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* Ich nenne in der Regel drei Haupt­mo­ti­va­tio­nen für den Plu­ra­lis­mus: Die erste bezieht sich (in einer etwas tra­di­tio­nel­len Popper’schen Weise) auf den Fal­li­bi­lis­mus und die Suche nach Alter­na­ti­ven als not­wen­di­ger Bestand­teil der Wis­sen­schaft, die zweite auf die Kom­ple­xi­tät der sozia­len Rea­li­tät, in der Mul­tik­au­sa­li­tät, Viel­schich­tig­keit und dyna­mi­sche Insta­bi­li­tät Schlüs­sel­in­stan­zen sind, die Plu­ra­lis­mus attrak­tiv machen, und drit­tens auf die Tat­sa­che, dass in einem monis­ti­schen For­schungs­um­feld Beweise oft ein­sei­tig inter­pre­tiert wer­den (was sich sehr schön daran illus­trie­ren lässt, wie die Ver­hal­tens­öko­no­mie alle Abwei­chun­gen vom Stan­dard­mo­dell als ‚Ver­zer­run­gen’ inter­pre­tiert und damit jedes empi­ri­sche Pro­blem den Pro­ban­den zuschreibt, anstatt die zugrunde lie­gende Theo­rie zu hinterfragen…)

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