Von öko­no­mi­schen Mess­grö­ßen aus hete­ro­do­xer Per­spek­tive. Was bedeu­tet der theo­re­ti­sche Über- bzw. Unter­bau eta­blier­ter Mess­grö­ßen für unser hete­ro­do­xes Verständnis?

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Vor eini­gen Jah­ren habe ich begon­nen, die Aus­wir­kun­gen zuneh­men­der wirt­schaft­li­cher Inte­gra­tion zu erfor­schen, wobei der Schwer­punkt auf den hete­ro­ge­nen Ent­wick­lungs­ver­läu­fen lag, die sich aus einer sol­chen Inte­gra­tion erge­ben (siehe z. B. hier oder hier für einige Ergeb­nisse). Bei der Durch­sicht der ein­schlä­gi­gen Lite­ra­tur wurde uns eine inter­dis­zi­pli­näre Lücke bewusst, die bei der Ope­ra­tio­na­li­sie­rung von „wirt­schaft­li­cher Inte­gra­tion“ oder „wirt­schaft­li­cher Offen­heit“ ent­steht. Wäh­rend (Mainstream-)Ökonomen dazu nei­gen, wirt­schaft­li­che Offen­heit durch die Divi­sion des gesam­ten Han­dels­vo­lu­mens durch das BIP (übli­cher­weise als „Han­dels-zu-BIP-Ver­hält­nis“ bezeich­net) zu mes­sen, zie­hen es Sozio­lo­gen vor, das Han­dels­vo­lu­men durch die Bevöl­ke­rungs­zahl zu tei­len. Was auf den ers­ten Blick als gering­fü­gi­ger Unter­schied erschei­nen mag, kann tief­grei­fende Aus­wir­kun­gen haben: Die zweite Stra­te­gie lie­fert uns so etwas wie ein „Han­dels­vo­lu­men pro Kopf“ (durch Divi­sion durch die Bevöl­ke­rungs­größe N), wäh­rend die erste auch das Durch­schnitts­ein­kom­men als zusätz­li­che Varia­ble berück­sich­tigt, die es zu kor­ri­gie­ren gilt (der Nen­ner kann effek­tiv als BIP = BIP/N * N geschrie­ben wer­den). Mit ande­ren Wor­ten, die Art und Weise, wie die Öko­no­men die Offen­heit mes­sen, lässt rei­che Län­der „geschlos­se­ner“ und arme Län­der „offe­ner“ erschei­nen, im Ver­gleich zu einem Ansatz, der die Größe einer Wirt­schaft nur anhand der Bevöl­ke­rungs­zahl erfasst.

Hete­ro­dox Eco­no­mics Newsletter

Der Hete­ro­dox Eco­no­mics News­let­ter wird her­aus­ge­ge­ben von Jakob Kapel­ler und erscheint im drei­wö­chent­li­chen Rhyth­mus mit Neu­ig­kei­ten aus der wis­sen­schaft­li­chen Com­mu­nity mul­ti­pa­ra­dig­ma­ti­scher öko­no­mi­scher Ansätze. Der News­let­ter rich­tet sich an einen Kreis von mehr als 7.000 Empfänger*innen und zählt schon weit mehr als 250 Ausgaben.

Da diese Nuan­cen bei bestimm­ten Anwen­dun­gen zu erheb­li­chen Unter­schie­den füh­ren kön­nen (z. B. bei der Erstel­lung ein­fa­cher „Rang­lis­ten“ der wirt­schaft­li­chen Offen­heit), ist es leicht ein­zu­se­hen, warum wir die Wahl der von uns ver­wen­de­ten Mess­grö­ßen unbe­dingt gründ­lich über­den­ken müs­sen. Im Falle der wirt­schaft­li­chen Offen­heit kann das Pro­blem schnell noch ver­häng­nis­vol­ler wer­den, wenn wir beden­ken, dass die meis­ten eta­blier­ten Mess­grö­ßen aus­schließ­lich auf der Han­dels­ak­ti­vi­tät basie­ren und die finan­zi­elle Kom­po­nente der wirt­schaft­li­chen Inte­gra­tion vernachlässigen.

Diese kurze Geschichte über die ver­schie­de­nen Kon­zep­tua­li­sie­run­gen und Mess­stra­te­gien der wirt­schaft­li­chen Offen­heit ver­an­schau­licht ein klas­si­sches Argu­ment aus der Wis­sen­schafts­theo­rie, näm­lich dass unsere Mes­sun­gen häu­fig durch impli­zite oder expli­zite theo­re­ti­sche Über­le­gun­gen unter­mau­ert wer­den. Diese „Theo­rie­lo­sig­keit“ von Beob­ach­tungs­da­ten ist für die große Mehr­heit der Öko­no­men nicht wei­ter von Belang, da sie sich meist damit zufrie­den geben, das jeweils eta­blierte, d.h. weit ver­brei­tete oder zumin­dest in den Top-Jour­na­len weit ver­brei­tete Maß zu ver­wen­den ;-) Für hete­ro­doxe Öko­no­men stellt diese Eigen­schaft jedoch eine zusätz­li­che Belas­tung dar, da (1) eta­blierte Mess­grö­ßen mög­li­cher­weise nicht zu unse­ren eige­nen theo­re­ti­schen Vor­stel­lun­gen pas­sen (und daher ange­passt wer­den müs­sen, um unse­rem For­schungs­in­ter­esse bes­ser zu ent­spre­chen) und/oder (2) auf irre­füh­ren­den, aber oft ver­steck­ten Annah­men beru­hen (was uns dazu zwingt, eta­blierte Mess­grö­ßen kri­tisch zu reflek­tie­ren und mög­li­cher­weise Alter­na­ti­ven vorzuschlagen).

Es ist zum Bei­spiel weit­hin aner­kannt, dass das BIP ein irre­füh­ren­des Maß für die wirt­schaft­li­che Soli­di­tät ist, das mit einer Reihe von Wert­ur­tei­len ein­her­geht. Es ist daher ein her­vor­ra­gen­des Bei­spiel für die Offen­heit von Theo­rien im All­ge­mei­nen, aber es eig­net sich auch gut zur Ver­an­schau­li­chung der bei­den oben skiz­zier­ten sub­ti­le­ren Punkte zu Fra­gen der Mes­sung. Shaiks und Tonaks klas­si­sches Buch „Mea­su­ring the wealth of nati­ons: the poli­ti­cal eco­nomy of natio­nal accounts“ stellt bei­spiels­weise einen Ver­such dar, die kon­ven­tio­nelle volks­wirt­schaft­li­che Gesamt­rech­nung in einen klas­sisch-mar­xis­ti­schen Rah­men zu über­füh­ren, um bes­ser zwi­schen pro­duk­ti­ver und unpro­duk­ti­ver Arbeit zu unter­schei­den (wobei letz­tere Kom­po­nen­ten wie Poli­zei­ar­beit, Mar­ke­ting oder Finan­zen umfasst) und so zu alter­na­ti­ven Schät­zun­gen für das Volks­ein­kom­men zu gelan­gen. In die­sem Bei­spiel wird ein bestehen­des Mess­schema im Lichte eines alter­na­ti­ven theo­re­ti­schen Ansat­zes neu interpretiert.

Eben­falls rele­vant ist der typi­sche Umgang mit BIP-Daten, der von ver­steck­ten Annah­men beein­flusst wird und dazu dient, die zweite Ver­pflich­tung des hete­ro­do­xen Öko­no­men zu ver­an­schau­li­chen, näm­lich sol­che impli­zi­ten Annah­men, die in unsere Mess­stra­te­gien ein­ge­baut sind, auf­zu­de­cken und mög­li­cher­weise das Bewusst­sein dafür zu schär­fen. Eine die­ser impli­zi­ten Annah­men, die von den meis­ten als selbst­ver­ständ­lich vor­aus­ge­setzt wird, ist, dass die Wachs­tums­rate des durch­schnitt­li­chen BIP/Kopf als „reprä­sen­ta­tive“ Wachs­tums­rate für jede Volks­wirt­schaft anzu­se­hen ist. Nur wenige erken­nen, dass diese Ent­schei­dung dem Gesamt­durch­schnitt (d. h. dem Wachs­tum des mitt­le­ren Ein­kom­mens) gegen­über dem Zeit­durch­schnitt (d. h. dem mitt­le­ren Ein­kom­mens­wachs­tum) den Vor­rang gibt. Mit ande­ren Wor­ten, unser Maß für das BIP-Wachs­tum reagiert über­haupt nicht auf die Frage, wem das Gesamt­wachs­tum zugu­te­kommt; ein auf Zeit­durch­schnit­ten basie­ren­des Maß für das BIP-Wachs­tum hin­ge­gen würde eine sol­che Sen­si­bi­li­tät bie­ten. Genauer gesagt wäre ein auf Zeit­durch­schnit­ten basie­ren­des BIP-Maß höher (nied­ri­ger) als das her­kömm­li­che Maß, wenn die Gesell­schaft rela­tiv gese­hen glei­cher (unglei­cher) wird (mehr dazu in die­sem über­sicht­li­chen Papier).

Auch wenn die­ses Argu­ment auf den ers­ten Blick etwas sub­til erschei­nen mag, so hat es doch einen ein­deu­ti­gen Bezug zu hete­ro­do­xen Theo­rien, da das her­kömm­li­che Maß für Wachs­tums­ra­ten offen­bar auf einer Art Ergo­di­zi­täts­an­nahme beruht. Ich sage bewusst „einer Art“, da die for­male Defi­ni­tion eines ergo­di­schen Sys­tems auf die Annahme hin­aus­läuft, dass Ensem­ble und zeit­li­cher Durch­schnitt immer zusam­men­fal­len, was hier nicht die Absicht zu sein scheint. Viel­mehr wird der zeit­li­che Durch­schnitt ein­fach für irrele­vant erklärt – obwohl er bei nicht-ergo­di­schen Sys­te­men (wie ver­mut­lich unse­ren Volks­wirt­schaf­ten) sehr infor­ma­tiv sein kann. Alter­na­tiv kann die­ser Unter­schied zwi­schen dem Ensem­ble und dem Zeit­durch­schnitt im Zusam­men­hang mit dem BIP-Wachs­tum auch im Sinne der kon­ven­tio­nel­len Wohl­fahrts­theo­rie for­mu­liert wer­den: Kon­ven­tio­nelle Maße legen nahe, dass sich das Ein­kom­men linear in Nut­zen umwan­delt (und daher die Ver­tei­lung für die Betrach­tung der Wohl­fahrt ver­nach­läs­sigt wer­den kann), wäh­rend Maße, die auf einem Zeit­durch­schnitt basie­ren, von einem abneh­men­den Nut­zen in Bezug auf das Ein­kom­men aus­ge­hen wür­den (und daher die Ver­tei­lung für die Wohl­fahrt von Bedeu­tung ist).

Viel­leicht habe ich ein­fach eine unan­ge­brachte Vor­liebe dafür, zu sehr in den Grund­la­gen zu wüh­len ;-) Aber viel­leicht stim­men Sie mir zu, dass eine sorg­fäl­tige Refle­xion die­ser Grund­la­gen oft uner­läss­lich ist und gleich­zei­tig ein gro­ßes Poten­zial hat, uns dabei zu hel­fen, unsere Per­spek­tive zu ord­nen und dabei wich­tige Erkennt­nisse zu gewinnen.*

letz­ter Absatz

Jakob
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* Siehe auch hier für ein alter­na­ti­ves Bei­spiel zum Tobin’s q.

PS: In unse­rem aus­ge­präg­ten plu­ra­lis­ti­schen Geist haben wir alle Auf­rufe hete­ro­do­xer Ver­ei­ni­gun­gen für das nächst­jäh­rige ASSA-Tref­fen in einem ein­zi­gen Bei­trag zusam­men­ge­fasst, der einen guten Über­blick über Ihre Optio­nen bie­tet, wenn Sie San Anto­nio Anfang 2024 besu­chen wollen!

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