Zur Debatte um die Zukunft der hete­ro­do­xen Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten. Was bedeu­tet hier­bei „hete­ro­dox“? Wel­che Vor­züge und Nach­teile hat der Begriff?

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Letzte Woche ent­deckte ich einen inter­es­san­ten Arti­kel über „Die Zukunft der hete­ro­do­xen Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten“. Im Gegen­satz zu den meis­ten Bei­trä­gen zu die­sem Thema, die sich auf kon­zep­tio­nelle Argu­mente kon­zen­trie­ren, zielt die­ser Arti­kel auf eine empi­ri­sche Betrach­tung ab, wobei Inter­views mit füh­ren­den hete­ro­do­xen Wissenschaftler*innen als Haupt­quelle die­nen. Auch wenn das Papier noch etwas Fein­schliff benö­tigt, wirft es einige inter­es­sante Fra­gen auf.

1.

Ers­tens nimmt der Arti­kel einen aus­ge­wo­ge­nen und ehr­gei­zi­gen Stand­punkt zur inter­pa­ra­dig­ma­ti­schen Inter­ak­tion ein. Obwohl die insti­tu­tio­nelle Ein­sei­tig­keit und die inhä­rente Ver­zer­run­gen zuguns­ten der in der zeit­ge­nös­si­schen Wirt­schafts­wis­sen­schaft vor­herr­schen­den Main­stream-Ansich­ten und ‑Inter­pre­ta­tio­nen voll und ganz aner­kannt wer­den, plä­diert das Papier den­noch für eine Inten­si­vie­rung der Gesprä­che und Inter­ak­tio­nen mit unse­ren Mainstream-Kolleg*innen. Das ist sicher­lich ein har­ter Weg, aber ich stimme dem zu (und habe in mei­nem letz­ten Edi­to­rial eine ähn­li­che Sicht­weise vorgeschlagen).

2.

Zwei­tens wird in dem Papier die Not­wen­dig­keit eines kohä­ren­te­ren Ansat­zes für die Lehre auf allen Ebe­nen her­vor­ge­ho­ben. Auch hier stimme ich zu, dass das Stre­ben nach einer kohä­ren­ten Erzäh­lung in der Lehre, die die Kraft und Viel­falt hete­ro­do­xen Den­kens bes­ser zugäng­lich macht, von ent­schei­den­der Bedeu­tung ist. Dies ist auch ein Thema, das in unse­rem eige­nen MA-Stu­di­en­gang Sozio­öko­no­mie an der Uni­ver­si­tät Duis­burg-Essen immer wie­der auf­taucht. Aus­ge­hend von die­sen Erfah­run­gen denke ich, dass es der­zeit an geeig­ne­ten Orten und Insti­tu­tio­nen man­gelt, die sich spe­zi­ell der Syn­these unse­rer bis­he­ri­gen Bemü­hun­gen und Erkennt­nisse aus sol­chen Pro­gram­men wid­men, um neue Ideen für eine inno­va­tive Lehre zu ent­wi­ckeln, aber auch um eine Eini­gung auf einen ana­ly­ti­schen und kon­zep­tio­nel­len Kern zu fin­den, mit dem die meis­ten Stu­die­ren­den der poli­ti­schen Öko­no­mie ver­traut sein sollten.

3.

Drit­tens wirft das Papier die Frage auf, dass „die theo­re­ti­sche Model­lie­rung [in der Main­stream-Öko­no­mie] eine cha­mä­leon­ar­tige Qua­li­tät ange­nom­men hat“ (S. 8), da inner­halb des kon­ven­tio­nel­len Rah­mens fast jedes Ergeb­nis durch die Ein­füh­rung geeig­ne­ter Ad-hoc-Annah­men erreicht wer­den kann. Die­ses Argu­ment gibt es in vie­len Ver­sio­nen in der hete­ro­do­xen Öko­no­mie – Tom Pal­ley spricht zum Bei­spiel von der Gat­to­pardo-Öko­no­mie, wäh­rend ich selbst ver­sucht habe, es als axio­ma­ti­sche Varia­tion zu for­mu­lie­ren. Da viele andere ein ähn­li­ches Argu­ment vor­ge­bracht haben, halte ich dies für einen ein­deu­ti­gen Kan­di­da­ten für die Art von „Syn­these“, die ich oben erwähnt habe.

4.

Schließ­lich wirft das Papier die kon­tro­verse Dis­kus­sion über die Vor­züge der Bezeich­nung „hete­ro­dox“ auf. Wäh­rend es eine erstaun­li­che Viel­falt von Ansich­ten zu die­sem Thema gibt – von Leu­ten, die das Eti­kett begrü­ßen, über andere, die es nur in pri­va­ten Kon­tex­ten ver­wen­den wol­len, bis hin zu jenen Kol­le­gen, die es über­haupt nicht ver­wen­den wol­len (obwohl sie mit eini­gen sei­ner Inhalte über­ein­stim­men) – gebe ich zu, dass ich in die­ser Frage eine sehr prag­ma­ti­sche Hal­tung ein­nehme. Zum einen glaube ich an die Mög­lich­keit einer posi­ti­ven Defi­ni­tion der hete­ro­do­xen Öko­no­mie, die sich auf weit­hin geteilte kon­zep­tio­nelle und theo­re­ti­sche Über­zeu­gun­gen stützt – wie etwa die Auf­fas­sung, dass die (kapi­ta­lis­ti­sche) Wirt­schaft ein ein­ge­bet­te­ter Ver­sor­gungs­pro­zess ist, der von effek­ti­ver Nach­frage, stei­gen­den Erträ­gen, endo­ge­nem Geld, Ver­tei­lungs­kon­flik­ten, grund­le­gen­der Unsi­cher­heit und tech­no­lo­gi­schen und insti­tu­tio­nel­len Pfad­ab­hän­gig­kei­ten geprägt ist und insta­bi­les Wachs­tum, die Erschöp­fung glo­ba­ler Res­sour­cen und Ver­tei­lungs­asym­me­trien (d. h. eine Menge Macht­ge­setze) her­vor­bringt. Vor die­sem Hin­ter­grund denke ich, dass der Begriff „hete­ro­doxe Öko­no­mie“ weit­ge­hend aus­tausch­bar mit alter­na­ti­ven Begrif­fen wie Sozio­öko­no­mie, poli­ti­sche Öko­no­mie oder plu­ra­lis­ti­sche Öko­no­mie ver­wen­det wer­den kann, solange wir bereit sind, eine kon­zep­tio­nell ähn­li­che posi­tive Defi­ni­tion für diese alter­na­ti­ven Begriffe zu lie­fern. Was dann bleibt, ist eine Frage der Rah­mung, und hier beginnt mein Prag­ma­tis­mus end­lich zu glänzen ;-)

Hete­ro­dox Eco­no­mics Newsletter

Der Hete­ro­dox Eco­no­mics News­let­ter wird her­aus­ge­ge­ben von Jakob Kapel­ler und erscheint im drei­wö­chent­li­chen Rhyth­mus mit Neu­ig­kei­ten aus der wis­sen­schaft­li­chen Com­mu­nity mul­ti­pa­ra­dig­ma­ti­scher öko­no­mi­scher Ansätze. Der News­let­ter rich­tet sich an einen Kreis von mehr als 7.000 Empfänger*innen und zählt schon weit mehr als 250 Ausgaben.

Mei­ner Ansicht nach soll­ten Bezeich­nun­gen Ori­en­tie­rung bie­ten – und in der Tat sind für dis­zi­pli­näre Außen­ste­hende Bezeich­nun­gen wie „Sozio­öko­no­mie“ oder „poli­ti­sche Öko­no­mie“ der hete­ro­do­xen Öko­no­mie weit über­le­gen, da sie sich auf ein spe­zi­fi­sches Stu­di­en­ge­biet bezie­hen, näm­lich die Unter­su­chung öko­no­mi­scher Fra­gen aus einer brei­te­ren sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen Per­spek­tive (siehe auch hier). Ande­rer­seits lässt der Begriff „hete­ro­doxe Öko­no­mie“ Außen­ste­hende rat­los zurück, hatte aber in der Ver­gan­gen­heit einige Ver­dienste, indem er eine Ori­en­tie­rung inner­halb der Dis­zi­plin bot, indem er einen gemein­sa­men Rah­men für die­je­ni­gen Ansätze bereit­stellte, die es ableh­nen, Stan­dard­lehr­bü­cher als Haupt­be­zugs­quelle in Lehre und For­schung zu ver­wen­den. Für mich erklä­ren diese Unter­schiede im Kon­text den gegen­wär­ti­gen Stand der unter­schied­li­chen Bezeich­nun­gen und lie­fern auch eine gewisse Legi­ti­ma­tion für die­sen – ter­mi­no­lo­gisch ambi­va­len­ten – Sta­tus Quo. Auch aus die­sem Grund – um einen Ori­en­tie­rungs­punkt zu bie­ten, der als eine Art Leucht­turm1 bei der Suche nach alter­na­ti­ven Ansät­zen in den Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten dient – habe ich den ursprüng­li­chen Titel die­ses News­let­ters immer gerne beibehalten.

Mich würde aber auch inter­es­sie­ren, was Sie dar­über den­ken: Den­ken Sie, dass die­ser News­let­ter ein Rebran­ding braucht? Wenn nicht, warum, und wenn doch, wel­che Bezeich­nung wür­den Sie vor­schla­gen? Wir freuen uns, Ihre Mei­nung dazu zu hören – schrei­ben Sie uns ein­fach eine E‑Mail.2

Alles Gute und herz­li­che Grüße,

Jakob
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1 Wahr­schein­lich aus die­sem Grund ist der Begriff „hete­ro­dox“ vor kur­zem auch in einem ande­ren Bereich auf­ge­taucht, näm­lich in den com­pu­ter­ge­stütz­ten Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, wo eine „hete­ro­doxe com­pu­ter­ge­stützte Sozi­al­wis­sen­schaft“ die vor­herr­schen­den erkennt­nis­theo­re­ti­schen, metho­do­lo­gi­schen und nor­ma­ti­ven Ansich­ten inner­halb der Gemein­schaft der com­pu­ter­ge­stütz­ten Sozi­al­wis­sen­schaf­ten in Frage stellt. Diese vor­herr­schen­den Ansich­ten för­dern Ste­reo­type, bekräf­ti­gen bestehende soziale Hier­ar­chien, ver­ein­fa­chen soziale Bezie­hun­gen und Dis­kurse zu stark und ver­hin­dern posi­ti­ven sozia­len Wan­del. Sie kön­nen sich das Papier hier anse­hen, es macht ein sehr gut for­mu­lier­tes und wich­ti­ges Argu­ment.

2 Als Anre­gung kön­nen Sie sich auch den Abschnitt „100 Worte zur hete­ro­do­xen Öko­no­mie“ im Hete­ro­dox Eco­no­mics Direc­tory anse­hen.