Mer­kels Wirt­schafts­po­li­tik setzte aufs Spa­ren, Wett­be­werbs­fä­hig­keit und ein Export­mo­dell, das in gefähr­li­che Was­ser führt. Zeit, umzusteuern. 

A

ngela Mer­kel hat aus dem kran­ken Mann Euro­pas die wirt­schaft­li­che Füh­rungs­macht der Euro­zone gemacht – das ist der Tenor der wirt­schaft­li­chen Rück­bli­cke auf die Ära Mer­kel. Doch der Auf­stieg Deutsch­lands wurde teuer erkauft. Vor allem ris­kiert er, nicht von Dauer zu sein, denn das wirt­schaft­li­che und soziale Fun­da­ment, das die Ära Mer­kel hin­ter­lässt, ist äußerst brüchig.

Mer­kel wurde oft poli­ti­sche Visi­ons­lo­sig­keit vor­ge­wor­fen. Wirt­schafts- und finanz­po­li­tisch ist der Vor­wurf halt­los. Der Blick zurück beweist: Die Kanz­le­rin hat den Umgang mit dem demo­gra­phi­schen Wan­del und die Her­aus­for­de­run­gen der Glo­ba­li­sie­rung kon­se­quent in das Zen­trum ihrer Wirt­schafts- und Finanz­stra­te­gie gerückt.

Mer­kels Dop­pel­fo­kus fußte auf drei Sta­tis­ti­ken, die sie nicht müde wurde zu wie­der­ho­len: Europa habe knapp sie­ben Pro­zent der Welt­be­völ­ke­rung, erbringe knapp 25 Pro­zent der Welt­wirt­schafts­leis­tung (BIP), zahle aber 50 Pro­zent aller Sozi­al­aus­ga­ben welt­weit. Würde Europa nicht zu einer der leis­tungs­fä­higs­ten Wirt­schaf­ten des 21. Jahr­hun­derts auf­stei­gen, dann sei es zum Unter­gang verdammt.

Auf Grund­lage die­ser Ana­lyse gab sie zwei Leit­li­nien für die Wirt­schafts- und Finanz­po­li­tik ihrer vier Regie­rungs­pe­ri­oden vor: Spar­sam­keit und Wett­be­werbs­fä­hig­keit. Diese bei­den Grund­sätze zie­hen sich durch ihre Regie­rungs­er­klä­run­gen, Reden im Aus­land und auf dem Welt­wirt­schafts­fo­rum, Gip­feln oder Par­tei­ta­gen. Trotz tak­ti­scher Zuge­ständ­nisse hielt die Kanz­le­rin an die­sen Leit­li­nien fest. Beide prägte sie erst Deutsch­land auf und dann der EU – sech­zehn Jahre lang, mit stra­te­gi­scher Konsequenz.

Doch diese Stra­te­gie war ein Feh­ler. Obwohl sie Deutsch­land, und ins­be­son­dere den soge­nann­ten Mit­tel­stand, kurz- und mit­tel­fris­tig nach vorne brachte, schuf sie eine Viel­zahl neuer Lang­zeit­ri­si­ken: für die Wirt­schaft, für Europa, für das Klima, für den gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt. Die Her­aus­for­de­run­gen der Demo­gra­phie und der Glo­ba­li­sie­rung hatte Mer­kel zwar klar erkannt, ihre Ant­wor­ten dar­auf waren jedoch fehlgeleitet.

Momente einer Kanz­le­rin­nen­schaft (1): Angela Mer­kel leis­tet im Jahr 2005 erst­mals ihren Amts­eid als Bun­des­kanz­le­rin. © Deut­scher Bundestag/Lichtblick/Achim Melde .

Ein Blick auf die Zah­len gibt dafür erste Anhalts­punkte: Das deut­sche Brut­to­in­lands­pro­dukt ist pro Kopf zwi­schen 2005 und 2019 um gut 20 Pro­zent gestie­gen – mehr als in Frank­reich oder in den USA. In der­sel­ben Zeit ist auch die Arbeits­lo­sig­keit von 12 Pro­zent auf 5 Pro­zent gesun­ken. Doch die­sen Zah­len ste­hen sta­gnie­rende Inves­ti­tio­nen gegen­über, was schwa­che Pro­duk­ti­vi­täts­ge­winne zur Folge hatte. Der öffent­li­che Inves­ti­ti­ons­stau war bereits vor Corona so gewal­tig, dass sich 2019 Arbeit­ge­ber und Gewerk­schaf­ten ver­bün­de­ten, um 450 Mil­li­ar­den an zusätz­li­chen öffent­li­chen Inves­ti­tio­nen zu for­dern. Gut die Hälfte des Wirt­schafts­wachs­tums basierte schlicht auf einer Stei­ge­rung der gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Arbeits­zeit, wel­che zwi­schen 2005 und 2019 um 11 Pro­zent anstieg.

Auch die Ver­tei­lung des Wachs­tums war ungleich: Bis zur Ein­füh­rung des Min­dest­lohns 2015, auf­grund von Druck der SDP, sta­gnier­ten die Löhne für das untere Drit­tel. Gleich­zei­tig stie­gen die Armuts­ri­si­ko­quote und die Nied­rig­lohn­quote leicht an. Erst danach ver­fes­tigte sich ein brei­te­res Lohn­wachs­tum, wel­ches die Einkommens‑, aller­dings nicht die Ver­mö­gens­un­gleich­heit reduzierte.

Ein Wachstumsmodell mit Ablaufdatum

Mer­kels Wirt­schafts­stra­te­gie basierte auf fol­gen­der Logik: Lohn­mo­de­ra­tion und fle­xi­ble Arbeits­märkte sol­len Wett­be­werbs­fä­hig­keit schaf­fen. Diese wird flan­kiert durch einen spar­sa­men Staat, der nied­rige Zin­sen, geringe Infla­tion und ein inves­ti­ti­ons- und inno­va­ti­ons­freund­li­ches Klima sichern soll. Der Export­fo­kus der deut­schen Wirt­schaft ist eine direkte Kon­se­quenz die­ser Wirt­schafts­po­li­tik: Die Nach­frage muss aus dem Aus­land kom­men, da sie im Inland durch lang­sam wach­sende Löhne und öffent­li­che Spar­sam­keit gehemmt ist.

Die­ses Modell inter­na­tio­na­ler Abhä­nig­kei­ten und Ungleich­ge­wichte funk­tio­niert nur, solange das Aus­land gewillt ist, sich wei­ter zu ver­schul­den oder Ver­mö­gens­werte zu verkaufen.

Die­ses Modell hält jedoch nicht ewig, da es inter­na­tio­nale Abhän­gig­kei­ten und Ungleich­ge­wichte schafft: Es funk­tio­niert nur, solange das Aus­land gewillt ist, sich jedes Jahr wei­ter zu ver­schul­den oder Ver­mö­gens­werte zu verkaufen.

Man kann sich das deut­sche Wachs­tums­mo­dell wie ein beson­ders erfolg­rei­ches Geschäft vor­stel­len, bei dem immer mehr Geld aus der Nach­bar­schaft hän­gen bleibt. Weil in die­sem Geschäft nied­rige Löhne gezahlt wer­den, kön­nen die Pro­dukte beson­ders güns­tig ange­bo­ten wer­den. Doch die Ange­stell­ten kau­fen in den benach­bar­ten Läden selbst ver­gleichs­weise wenig, da nied­rige Löhne auch nied­rige Ein­kom­men sind. Wenn die Besit­ze­rin dann auch noch beson­ders spar­sam ist, wer­den auch die Pro­fite nicht aus­ge­ge­ben, die auf­grund des Erfolgs und der ver­gleichs­weise nied­ri­gen Löhne rea­li­siert wer­den. Eine ander­wei­tige Umver­tei­lung von einem Laden zum nächs­ten gibt es nicht. So bleibt das Geld hän­gen, anstatt zurück in den Wirt­schafts­kreis­lauf zu flie­ßen. Wenn die Kun­den wei­ter ein­kau­fen wol­len, müs­sen sie Ver­mö­gens­werte ver­kau­fen oder sich verschulden.

Die lokale Finanz­wirt­schaft kann den unter­bro­che­nen Kreis­lauf zwar zunächst wie­der in Schwung brin­gen und die Pro­fite des Ladens nut­zen, um Kre­dite an die eigene Kund­schaft zu finan­zie­ren oder um deren Ver­mö­gens­werte anzu­kau­fen. Doch auch das funk­tio­niert nur eine begrenzte Zeit lang. Irgend­wann sind die Ver­mö­gen ver­kauft und die Auf­nahme wei­te­rer Kre­dite zu ris­kant. Spä­tes­tens dann bricht die Lokal­wirt­schaft zusammen.

Max Krahé ist Koor­di­na­tor des Pro­mo­ti­ons­kol­legs „Poli­ti­sche Öko­no­mie der Ungleich­heit“ am ifso und For­schungs­di­rek­tor des Dezer­nat Zukunft. Seine Schwer­punkte: Poli­ti­sche Theo­rie und Poli­ti­sche Ökonomie

Deutsche Leitlinien und europäische Konsequenzen

Die Fol­gen der deut­schen Export­stra­te­gie wurde bereits in der Euro­krise erkenn­bar. Von 2002 bis 2008 erwirt­schaf­tete Deutsch­land 702 Mil­li­ar­den Euro an Leis­tungs­bi­lanz­über­schüs­sen. Deren Kehr­seite waren 702 Mil­li­ar­den Euro an Kre­dit­ver­gabe und Kapi­tal­ex­porte ins Aus­land. Deut­sche Ban­ken finan­zier­ten damit aus­län­di­sche Immo­bi­lien- und Finanz­booms, Bla­sen ent­stan­den, die 2007 und 2008 schließ­lich platzten.

Doch anstatt dar­auf­hin einen stra­te­gi­schen Kurs­wech­sel anzu­stre­ben, nutzte Mer­kel die Krise, um die Wachs­tums­stra­te­gie der gan­zen EU zu ver­än­dern. Es war eine his­to­ri­sche Hand­lung ers­ten Ran­ges, die sie mit Chuzpe gegen die innere und äußere Oppo­si­tion durch­setzte. Zwar gab es ins­be­son­dere zwi­schen Finanz­mi­nis­ter Schäuble und der Kanz­le­rin Dif­fe­ren­zen, wie die­ses Ziel am bes­ten zu errei­chen sei. Doch wohin Mer­kel wollte, blieb immer klar: „Wett­be­werbs­fä­hig­keit ist jetzt auch in der Euro­päi­schen Union Chef­sa­che.“ Um neben der Wett­be­werbs­ori­en­tie­rung auch die Spar­sam­keit fest zu ver­an­kern, bestand Mer­kel dar­auf, „dass jeder in seine eigene Rechts­ord­nung Schul­den­brem­sen ein­führt.

So ambi­tio­niert das Ziel, so dra­ma­tisch die Mit­tel. Ins­be­son­dere an Grie­chen­land wurde ein Exem­pel sta­tu­iert, von dem sich das Land bis heute nicht erholt hat. Noch im letz­ten vol­len Jahr vor Aus­bruch der Corona-Pan­de­mie lag Grie­chen­lands BIP ein Vier­tel unter dem Wert von 2008. Gleich­zei­tig war die Schul­den­quote um zwei Drit­tel gestie­gen. Die Arbeits­lo­sig­keit lag bei mehr als 15 Pro­zent, die Jugend­ar­beits­lo­sig­keit sogar bei 35 Prozent.

Der harte Kurs gegen Grie­chen­land sollte den nöti­gen Druck erzeu­gen, mit dem sich Wett­be­werbs­fä­hig­keit und Spar­sam­keit im Rest der Euro­zone durch­drü­cken ließen.

All das ist kaum über­ra­schend: Denn die Ret­tungs­pa­kete und die mit ihnen beschlos­se­nen Reform­maß­nah­men hat­ten nicht das Ziel, eine mög­lichst rasche Erho­lung oder eine mög­lichst voll­stän­dige Schul­den­rück­zah­lung zu errei­chen. Nie­mand ande­res als der IWF hat das wie­der­holt deut­lich gemacht – im offe­nen Kon­flikt mit Ber­lin. Der harte Kurs gegen Grie­chen­land sollte viel­mehr den nöti­gen Druck erzeu­gen, mit dem sich Wett­be­werbs­fä­hig­keit und Spar­sam­keit im Rest der Euro­zone durch­drü­cken lie­ßen. Es war „die poli­ti­sche Erfah­rung, dass für poli­ti­sche Struk­tur­re­for­men oft Druck gebraucht wird“, so die Kanzlerin.

Momente einer Kanz­le­rin­nen­schaft (II): In der Nacht zum 13. Juli stimmte der grie­chi­sche Minis­ter­prä­si­dent Alexis Tsi­pras Maß­nah­men zu, wel­che die Grie­chen  zuvor in einem Refe­ren­dum abge­lehnt hat­ten. Angela Mer­kel fiel bei den Ver­hand­lun­gen eine Schlüs­sel­rolle zu. Bild aus dem Jahr 2017. Infor­mal mee­ting of 27 Heads of Sta­tes and Govern­ments, Brussels, 10 March 2017 von Euro­pean Coun­cil, CC BY-NC-ND 2.0, via flickr.com.

Die Kon­se­quenz: Auf Grund­lage demo­kra­ti­scher Mehr­hei­ten ließ sich die­ser Kurs nicht durch­set­zen: „Wah­len ändern nichts“, wie Schäuble es 2015 zuspitzte. Das Ver­trauen in die Demo­kra­tie wurde ebenso abgewirtschaftet.

Es hätte auch andere Wege gege­ben: China ging damals mit einem ver­gleich­ba­ren Außen­han­dels­über­schuss und einem ähn­lich export­ge­trie­be­nen Wachs­tums­mo­dell wie Deutsch­land in die Finanz­krise. Doch China stei­gerte seine Bin­nen­nach­frage so dra­ma­tisch, dass sein Leis­tungs­bi­lanz­über­schuss von knapp 10 Pro­zent des eige­nen BIPs (2006−7) dau­er­haft auf circa 2 Pro­zent (2011−2020) abschmolz. Ein sol­cher Wan­del des Wachs­tums­mo­dells wäre auch in Deutsch­land mög­lich gewesen.

Des Pudels Kern

Wo lag der Feh­ler? Das Fun­da­ment, auf dem Mer­kels Stra­te­gie ruhte, war die Ratio­na­li­tät der pri­va­ten Inves­to­ren: Für sie müsse der Staat Anreize schaf­fen. Damit über­sah Mer­kel jedoch, was Keynes schon vor lan­ger Zeit erkannte: Ob und wo Inves­to­ren sich enga­gie­ren, hängt nicht nur vom Zins­satz und den Gewinn­erwar­tun­gen ab, son­dern vor allem von Nach­frage, Stim­mung und Instinkt.

Öffent­li­che Spar­sam­keit mag zwar die Zin­sen und die Infla­tion nied­rig hal­ten, aber aus Angst vor einer Auf­trags­flaute und schlech­ter Infra­struk­tur kön­nen Inves­ti­tio­nen trotz­dem gehemmt wer­den. Nied­ri­gere Löhne mögen kurz­fris­tig die Pro­fite stei­gern, doch der nied­rige Kon­sum und die so ent­stan­dene Nach­fra­ge­lü­cke erzeu­gen neue Pro­bleme, wel­che der Staat aktiv lösen muss.

Die Politische Ökonomie der Ungleichheit

Das Pro­mo­ti­ons­kol­leg „Die Poli­ti­sche Öko­no­mie der Ungleich­heit“ unter­sucht Aus­maß, Ursa­chen und Fol­gen stei­gen­der sozio­öko­no­mi­scher Ungleich­heit. Mate­ri­elle Unter­schiede ste­hen dabei im Mit­tel­punkt, wer­den aber stets in Zusam­men­hang zu poli­ti­schen, sozia­len und öko­lo­gi­schen Aspek­ten gesetzt. Die For­schungs­pra­xis ist von einem inter­dis­zi­pli­nä­ren und anwen­dungs­ori­en­tier­ten sozio­öko­no­mi­schen Ansatz geprägt. Zur Über­sicht aller Blog­bei­träge der Mit­glie­der aus dem Promotionskolleg

Was sich im letz­ten Jahr­zehnt in Europa beob­ach­ten lässt, ist die Kehr­seite von Mer­kels geschei­ter­ter Stra­te­gie: Durch Nach­fra­ge­man­gel wur­den Mil­lio­nen von Men­schen arbeits­los, pro­duk­tive Kapa­zi­tä­ten lagen brach, und ein Gefühl der Ver­knap­pung und Unge­wiss­heit brei­tete sich aus.

Schäden jenseits der Wirtschaft

Mer­kels Tak­tik hin­ter­ließ jedoch nicht nur in der Wirt­schaft erheb­li­che Schä­den. Zum einen schuf und schafft sie lang­fris­tig Risi­ken in der Außen­po­li­tik. Die Lita­nei von Beschwer­den aus Washing­ton, Brüs­sel und vom IWF zei­gen, dass sich Deutsch­land mit sei­nen enor­men Leis­tungs­bi­lanz­über­schüs­sen – in die­ser Größe übri­gens ein neue­res Phä­no­men – inter­na­tio­nal unbe­liebt gemacht hat. Und das ist noch das kleinste außen­po­li­ti­sche Problem.

Leis­tungs­bi­lanz­über­schüsse füh­ren über die Jahre hin­weg zum Auf­bau gro­ßer Aus­lands­ver­mö­gen. Klingt zunächst gut: Schließ­lich könn­ten diese sichere Ren­ten finan­zie­ren und so den demo­gra­phi­schen Wan­del abfe­dern. Doch auf Ebene der Geo­po­li­tik ist die­ser Ansatz äußerst fahr­läs­sig. Er würde dazu füh­ren, dass sich eine alternde Bun­des­re­pu­blik zur Siche­rung ihrer Ren­ten auf aus­län­di­sche Divi­den­den­zah­lun­gen in Mil­li­ar­den­höhe ver­ließe, ohne selbst dafür aktu­elle Gegen­leis­tun­gen zu erbringen.

Dras­tisch gesagt, aber nicht aus­ge­schlos­sen: Ent­we­der sind die Ren­ten weg oder das Mili­tär treibt die inter­na­tio­na­len Schul­den ein. Nie­mand will vor so einer Ent­schei­dung stehen.

Im Aus­land wird man sich damit keine Freunde machen. Es ist nicht aus­ge­schlos­sen, dass sich im Laufe der Zeit, wenn die ursprüng­li­chen Inves­ti­tio­nen längst ver­ges­sen sind, poli­ti­sche Mehr­hei­ten dage­gen bil­den. Sollte es so kom­men, dann stünde die Bun­des­re­pu­blik vor einer heik­len Ent­schei­dung: Ent­we­der müss­ten die Ver­mö­gens­werte abge­schrie­ben oder einem frem­den Land der eigene Wil­len auf­ge­zwun­gen wer­den. Dras­tisch gesagt: Ent­we­der sind die Ren­ten weg oder das Mili­tär treibt die inter­na­tio­na­len Schul­den ein. Nie­mand will vor so einer Ent­schei­dung ste­hen. Doch genau dar­auf steu­ern wir auf lange Sicht mit dem Wirt­schafts­mo­dell der Ära Mer­kel zu.

Auch der Kli­ma­po­li­tik hat die Stra­te­gie der Kanz­le­rin gescha­det. Warum Mer­kels Kli­ma­bi­lanz so ent­täu­schend ist, kön­nen selbst die bes­ten Mer­kel-Ken­ner kaum erklä­ren: Andere Prio­ri­tä­ten setzte sie geschickt durch, teils gegen schwerste Wider­stände. Den­noch hin­ter­lässt sie ein Deutsch­land, in dem die Ener­gie­wende ins Sto­cken gera­ten ist und der Struk­tur­wan­del in der Indus­trie ver­schla­fe­nen wurde, des­sen Infra­struk­tur und Ver­wal­tung über­al­tert sind, und in dem heute unge­wiss ist, ob man in der Nähe von Flüs­sen oder als Förs­ter auch in fünf­zig Jah­ren noch gut und gerne leben wird.

Momente einer Kanz­le­rin­nen­schaft (III): Angela Mer­kel auf der UN-Kli­ma­kon­fe­renz in Paris im Jahr 2015. Pre­si­den­cia de la Repú­b­lica Mexi­cana, CC BY 2.0, via Wiki­me­dia Commons.

Die Gründe für diese nie­der­schmet­ternde Bilanz sind viel­schich­tig. Doch auch hier spiel­ten ihre bei­den wirt­schafts­po­li­ti­schen Leit­li­nien eine Rolle: Wurde zum Bei­spiel die Wett­be­werbs­fä­hig­keit der deut­schen Auto­mo­bil­in­dus­trie durch schär­fere CO2-Nor­men aus Brüs­sel bedroht, wur­den diese blo­ckiert. 2013 gab Mer­kel zu Pro­to­koll: „Wir wol­len die erneu­er­ba­ren Ener­gien aus­bauen. Aber das muss so gesche­hen, dass der Indus­trie­stand­ort Deutsch­land nicht in Gefahr gerät“.

Auch die Spar­sam­keit war keine Hilfe: Die direk­ten Effekte der Schul­den­bremse auf öffent­li­che Umwelt­in­ves­ti­tio­nen wer­den zwar meist über­schätzt, doch ihre indi­rek­ten Effekte wie­gen umso schwe­rer. In fle­xi­blen Arbeits­märk­ten mit struk­tu­rel­lem Nach­fra­ge­man­gel sind die Zukunfts- und Kar­rie­re­aus­sich­ten vie­ler Men­schen von Unsi­cher­heit geprägt. So ent­stan­den über die Jahre Wäh­ler­grup­pen, die aus nach­voll­zieh­ba­ren Moti­ven einen Wan­del scheuen. So hat die Spar­sam­keit ein Umfeld geschaf­fen, in dem es immer schwie­ri­ger gewor­den ist, eine kon­se­quente Kli­ma­po­li­tik mehr­heits­fä­hig zu machen.

Umgeben von Falken

Wie kann es sein, dass einer stra­te­gisch klu­gen und durch­set­zungs­star­ken Poli­ti­ke­rin so grund­le­gende Wei­chen­stel­lun­gen miss­glück­ten? Eines ist klar: Mer­kels Feh­ler gehen nicht dar­auf zurück, dass sie eine neo­li­be­rale Ideo­lo­gin war. Nach­dem sie in den Tagen des Leip­zi­ger Par­tei­tags von 2003 kurz mit dem Neo­li­be­ra­lis­mus lieb­äu­gelte, war sie nach der Bun­des­tags­wahl 2005 schnell bereit, diese Ideo­lo­gie wie­der fal­len zu las­sen. Auch poli­ti­sche Sach­zwänge über­zeu­gen nicht. Bei der Ret­tung des Euros, der Umstel­lung süd­eu­ro­päi­scher Wachs­tums­mo­delle und in der Geflüch­te­ten­frage demons­trierte Mer­kel: Wo ein Wille ist, da ist ein Weg.

Ebenso wenig war Mer­kel völ­lig blind gegen­über der sozia­len Ungleich­heit, die sich in und durch ihre Amts­zeit ver­schärfte. „Soli­da­ri­tät mit den Schwa­chen“ war ein wei­te­res Leit­mo­tiv ihrer Wirt­schafts­po­li­tik. Von der SPD gefor­derte Refor­men wie der Kita-Aus­bau, der Min­dest­lohn und die Grund­rente hat sie mitgetragen.

Wie kann es sein, dass einer stra­te­gisch klu­gen und durch­set­zungs­star­ken Poli­ti­ke­rin so grund­le­gende Wei­chen­stel­lun­gen missglückten?

Doch einen Kno­chen­bruch heilt man nicht mit Pflas­tern. Mer­kels wirt­schaft­li­che Grund­satz­ent­schei­dun­gen haben exis­ten­zi­el­len Unsi­cher­hei­ten aus­ge­löst und sich durch ihre Kri­sen­po­li­tik in ganz Europa aus­ge­brei­tet. Die Fol­gen die­ser Wirt­schafts­po­li­tik, ins­be­son­dere die Zukunfts­angst, wur­den durch die deso­late Kli­ma­po­li­tik noch zusätz­lich ver­stärkt. Mit ver­güns­tig­ten Kre­di­ten oder einem Min­dest­lohn von 8,50 Euro lässt sich das alles nicht auffangen.

All dies, so scheint es, erkannte Mer­kel selbst gegen Ende ihrer Amts­zeit: Ihr Ein­ver­ständ­nis zum EU-Wie­der­auf­bau­fonds und sei­ner Finan­zie­rung durch gemein­same euro­päi­sche Ver­schul­dung, ihre Tref­fen mit Greta Thun­berg und Luisa Neu­bauer sowie das Ein­ge­ständ­nis, dass in der Bekämp­fung des Kli­ma­wan­dels „nicht aus­rei­chend viel pas­siert“ sei sowie der Ver­such ihres Kanz­ler­amts­chefs doch noch die Schul­den­bremse zu lockern – all dies zeugt davon. Doch diese Kurs­kor­rek­tu­ren kamen zu spät und waren zu zaghaft.

Frag­lich bleibt, warum sie diese grund­le­gen­den Fehl­ent­schei­dun­gen über­haupt gefällt hat. Ihr Umfeld könnte dabei eine nicht uner­heb­li­che Rolle gespielt haben. Die Kanz­le­rin war umge­ben von einem Stab mei­nungs­star­ker und treuer Wirt­schafts­be­ra­ter, dar­un­ter Jens Weid­mann, Uwe Cor­se­pius und Lars-Hen­drik Röl­ler. Der Erste wurde nach sei­ner Ernen­nung zum Bun­des­bank­prä­si­den­ten als „der letzte Falke“ bekannt, der selbst inmit­ten der Euro­krise noch geld­po­li­ti­sche Zurück­hal­tung for­derte. Der Zweite, „Mer­kels Euro-Figh­ter“, schmet­terte in der Euro­krise sämt­li­che Vor­schläge ab, die ihrer Gesamt­stra­te­gie zuwi­der­lie­fen, und erwarb damit den Spitz­na­men „Dr. No“. Der Dritte argu­men­tierte gerne, dass nur harte Struk­tur­re­for­men zu Wett­be­werbs­fä­hig­keit füh­ren, und die sei wie­derum der Schlüs­sel zum Erfolg.

Jens Weid­mann, Prä­si­dent der Deut­schen Bun­des­bank zwi­schen 2011 und 2021, gilt als ein wich­ti­ger wir­schaft­li­cher Rat­ge­ber Mer­kels. Mark Bollhorst/INSM: Bun­des­bank­prä­si­dent Jens Weid­mann bei der 13. Lud­wig-Erhard-Lec­ture der Initia­tive Neue Soziale Markt­wirt­schaft im Atrium der FAZ in Ber­lin, CC-BY-ND 2.0, via flickr.com.

Eine voll­stän­dige Erklä­rung wird erst mit his­to­ri­schem Abstand und geöff­ne­ten Archi­ven mög­lich sein. Bereits heute ist jedoch erkenn­bar ist, dass Mer­kels Wirt­schafts- und Finanz­po­li­tik ihre Gesellschafts‑, Klima- und Euro­pa­po­li­tik unter­gru­ben. Jen­seits der urba­nen Zen­tren und außer­halb der weni­gen Indus­trie-Inseln, die noch durch gewerk­schaft­li­che Dei­che geschützt wer­den, hat sich aber in ganz Europa eine ätzende öko­no­mi­sche Unsi­cher­heit ausgebreitet.

Die Eigen­tü­mer der Export­in­dus­trie sowie in gerin­ge­rem Maße die Kern­be­leg­schaf­ten der Export­in­dus­trien haben vom Modell Mer­kel pro­fi­tiert und beein­flus­sen die deut­sche Poli­tik beträchtlich.

Pro­fi­tiert vom Modell Mer­kel haben vor allem die Eigen­tü­mer der Export­in­dus­trie, der soge­nannte Mit­tel­stand, sowie in gerin­ge­rem Maße die Kern­be­leg­schaf­ten der Export­in­dus­trien. Diese Grup­pen beein­flus­sen die deut­sche Poli­tik beträcht­lich. Dass Mer­kel auch nach der Euro­krise und trotz der Kli­ma­krise kei­nen Rich­tungs­wech­sel vor­gab, könnte in Tei­len auch auf deren Macht und Ein­fluss­nahme zurück­zu­füh­ren sein.

Umso wich­ti­ger ist es, dass wir jetzt schnell umsteu­ern: weg von einem Wachs­tums­mo­dell, das auf fos­sile Brenn­stoffe und Markt­lö­sun­gen setzt, hin zu einer nach­hal­ti­ge­ren Wirt­schaft, deren Umbau Kin­der und Rent­ner, Arbei­te­rin­nen und Pfle­ger, Stu­die­rende und Ein­ge­wan­derte, auch Fir­men und der Staat schnellst­mög­lich zusam­men ange­hen müs­sen. Staat­li­che Haus­halts­de­fi­zite und höhere Löhne soll­ten die Nach­frage ankur­beln, um unter den Beschäf­tig­ten und den Kapi­tal­ge­bern neue Zuver­sicht zu schaf­fen. Infra­struk­tur, Indus­trie und Wohn­raum soll­ten mit­tels öffent­li­cher und pri­va­ter Inves­ti­tio­nen erneu­ert wer­den. Und die Dekar­bo­ni­sie­rung sollte so zügig vor­an­ge­bracht wer­den, dass die heu­tige und künf­tige Jugend wie­der Hoff­nung fas­sen kann.

Die­ser Bei­trag wurde zuerst bei Jaco­bin ver­öf­fent­licht. Die Ver­öf­fent­li­chung erfolgt mit freund­li­cher Genehmigung.

Kurz zusammengefasst

Angela Mer­kel hat die Volks­wirt­schaft Deutsch­lands vom kran­ken Mann Euro­pas zur wirt­schaft­li­chen Füh­rungs­macht der Euro­zone gelei­tet. Ihre stra­te­gi­schen Leit­li­nien hin­ter die­sem Wan­del in Form von Spar­sam­keit und Wett­be­werbs­fä­hig­keit hin­ter­las­sen jedoch ein brü­chi­ges wirt­schaft­li­ches und sozia­les Fun­da­ment sowie inter­na­tio­nale Ungleich­ge­wichte und Abhän­gig­kei­ten. Aus Lohn­zu­rück­hal­tung und dem Feh­len öffent­li­cher Inves­ti­tio­nen durch einen spar­sa­men Staat ist die Kon­se­quenz des Export­fo­kus Deutsch­lands direkt ableit­bar. Hier­aus erge­ben sich lang­fris­tige Risi­ken in der Außen­po­li­tik, eine fahr­läs­sige Per­spek­tive für die Geo­po­li­tik und eine ent­täu­schende Kli­ma­bi­lanz. Zudem über­trug Mer­kel die Wachs­tums­stra­te­gie auf die ganze EU mit der Kon­se­quenz, dass das Ver­trauen in die Demo­kra­tie litt. Es ist umso wich­ti­ger schnell umzu­steu­ern: auf staat­li­che Haus­halts­de­fi­zite und höhere Löhne zur Stär­kung der Nach­frage zu set­zen; Infra­struk­tur, Indus­trie und Wohn­raum zu erneu­ern; und die Dekar­bo­ni­sie­rung zügig voranzubringen.